Unter dem Titel Some Bright Morning präsentiert das Fridericianum die erste umfangreiche Einzelausstellung von Melvin Edwards in einer europäischen Institution. Anhand von mehr als 50 Werken bietet die Schau die Möglichkeit, die vielfältige abstrakte Formensprache des Bildhauers, Installationskünstlers und Zeichners kennenzulernen.
Mit einem zukunftsgewandten Bewusstsein für die Fragestellungen, Praktiken und Formen der Moderne begründete Melvin Edwards in den frühen 1960er Jahren eine Praxis, die durch große Eigenständigkeit und Stringenz besticht. Sein Werk umfasst unter anderem Wandobjekte – die Lynch Fragments – Stacheldrahtinstallationen, freistehende Skulpturen und Papierarbeiten. Obwohl die Arbeiten des 1937 im texanischen Houston geborenen Edwards im Bereich der Abstraktion zu verorten sind, verweisen sie auf greifbare Bezugspunkte: Sie evozieren Gedanken, Gefühle und Bilder, die mit jenem historischen Kontext der Vereinigten Staaten von Amerika verbunden sind, aus dem die Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre erwuchs. Edwards‘ Werke können insofern als Ausdruck eines politischen Engagements – eines Protests gegen Ungerechtigkeiten gelesen werden, der bis heute nichts an Dringlichkeit verloren hat und der für den Künstler ebenfalls auf andere geografische Bereiche der Welt, wie verschiedene Regionen Afrikas oder Mittel- und Südamerika übertragbar ist.
Künstlerische Anfänge und die erste zentrale Serie
Edwards erlebte während seiner Kindheit und Jugend, die er in Texas und Ohio verbrachte, die Auswirkungen und Dimensionen der Rassentrennung. Nach dem Abschluss der Highschool zog er 1955 nach Kalifornien. Dort begann er, an der University of Southern California, seine vertiefte Auseinandersetzung mit den Künsten, insbesondere mit der Malerei. Parallel dazu lebte er seine Leidenschaft für American Football aus. Wie der Künstler selbst erläutert, hatte der starke Körperbezug der sportlichen Betätigung wesentlichen Anteil daran, dass er im Laufe der Zeit sein Augenmerk verstärkt auf die Skulptur richtete. 1960 erlernte er die Techniken des Schweißens, die er fortan zentral in seiner künstlerischen Produktion einsetzte. Nach einer längeren Periode des Experimentierens und Forschens gelangte er schließlich 1963 zu einer skulpturalen Formulierung, die den wesentlichen Ausgangspunkt seines Werkes bildete. Es entstand die erste Arbeit jener umfangreichen Serie, der er später den Titel Lynch Fragments geben sollte: ein kleines, reliefartiges Wandobjekt, das er aus unterschiedlichen Metallresten, flachen Platten, einer Kette und einem röhrenförmigen Element, zusammenschweißte. Durch die spitzen, klingenartigen Dreiecksformen, die Rohheit und Schwere des Materials sowie die groben Spuren des Schweißens hat das Werk eine kraftvolle Präsenz. Trotz der Unlesbarkeit des Objektes appelliert es unmittelbar an die Emotionen wie auch an das Vorstellungvermögen der Rezipierenden. Die intensive Wirkung, wie sie von dem frühen Wandrelief ausgeht, ist das Charakteristikum aller Lynch Fragments, die mit Unterbrechungen von 1967 bis 1972 sowie von 1974 bis 1977 maßgeblich Edwards’ Schaffen prägen und die im Fridericianum anhand von dreizehn ausgewählten Beispielen vorgestellt werden. Als weiterer wichtiger Wesenszug der Werkserie kann Edwards’ spezifische Verwendung von Sprache angesehen werden, durch die er Bezugnahmen auf historische Ereignisse, Orte oder Personen vornimmt. So verweist etwa der Titel von Some Bright Morning (1963), des programmatischen, ersten Wandobjektes, auf eine Episode aus Ralph Ginzburgs 1962 erschienenen Publikation 100 Years of Lynchings, die die Selbstverteidigung einer schwarzen Familie gegen rassistisch motivierte Gewalt dokumentiert.
Weitere Werkgruppen
1967 zog Edwards nach New York, wohin er bereits in den Vorjahren erste Kontakte geknüpft hatte. Für den jungen Künstler verband sich mit der Umsiedlung die Möglichkeit, neue kreative Wege zu erkunden. So begann er, Stacheldraht als Arbeitsmittel zu nutzen, wodurch er die Grundlage einer weiteren wichtigen Werkgruppe bestimmte. Einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit dem Material markierte eine Präsentation von Edwards im Whitney Museum of American Art in New York (1970) – die erste Einzelausstellung eines afroamerikanischen Bildhauers in dieser Institution. Die Schau umfasste vier raumgreifende Installationen, die sich zum Teil auf die Fragestellungen und Formen der Minimal Art verwiesen. So spannte Edwards beispielsweise für die Arbeit Corner for Ana (1970) annähernd vierzig Stacheldrähte zwischen zwei im rechten Winkel zueinander stehenden Wänden und definierte dadurch innerhalb der bestehenden Architektur einen prismenförmigen Raum. Trotz der visuellen Feinheit und Leichtigkeit der Setzung vermittelte die Installation ein Gefühl von Massivität, Gefahr und Gewalt. Wie deutlich, vielmehr drastisch, Edwards’ Stacheldrahtinstallation auf die Rezipierenden Einfluss nimmt, lässt sich an der ebenfalls 1970 im Whitney Museum of American Art gezeigten Formulierung „Look through minds mirror distance and measure time“ – Jayne Cortez (1970)nachvollziehen, die zusammen mit zwei weiteren Beispielen der Werkgruppe Teil der Ausstellung im Fridericianum ist. Die Arbeit, bei der es sich um eine, von der Decke weit in den Raum ragende, voluminös geschwungene Drahtformation handelt, lädt mit ihrer lockeren, luftigen Gestalt Betrachtende zur Annäherung ein, während das scharfkantige Material sie gleichzeitig zur Distanz zwingt.
Sind die Installationen Edwards’ von auf die Realität verweisender Brachialität und Düsterheit gekennzeichnet, die auf jüngere Positionen von Cady Noland bis Cameron Rowland verweisen, strahlen Papierarbeiten des Künstlers häufig eine gänzlich andere Stimmung aus. Die seit 1970 entstehenden Werke zeichnen sich durch eine intensive, leuchtende Farbgebung aus, während die sie prägenden Formen und Strukturen in manchen Momenten wie Girlanden oder Ornamente anmuten. Als Basis der Arbeiten fungieren Stacheldrähte, Ketten und Gitter, die er durch den Einsatz von Sprüh- und Aquarellfarbe auf das Papier überträgt, sie also als Positiv-Schablonen nutzt. Das Potenzial der Bedrohung und der Gewalt wird durch die fröhliche Atmosphäre der malerischen Blätter, denen in der Kunsthalle ein ganzer Raum gewidmet ist, konterkariert.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Schaffens von Edwards bilden Skulpturen, die frei im Ausstellungsraum positioniert werden. Diese Arbeiten entstehen seit den Anfängen seiner künstlerischen Tätigkeit und weisen vielfältige Formen und Formate auf. Ihr Spektrum reicht von komplex-minimalistischen Setzungen wie Homage to the Poet Léon-Gontran Damas (1978–1981), über farbig gefasste Werke wie Tan Ton Dyminns (1974) oder Felton (1974), kinetische Arbeiten wie Coco Vari Providence (2017) bis hin zu kolossalen Edelstahlskulpturen wie Adeoli Goacoba (1988) oder Poetic Juxtaposition (2019). Unabhängig von der jeweiligen Gestalt fungieren Edwards‘ Arbeiten mit ihren zahlreichen Bezugnahmen auf Geografie, Gesellschaft und Geschichte gleichermaßen als Monumente, als kritische Reflexionen, als Träger einer auf die Zukunft gerichteten Botschaft. Diese spezifische Eigenart der Werke erfuhr 1970 eine deutliche Verfeinerung, als er begann, den afrikanischen Kontinent zu bereisen und sich 2000 in Dakar sogar ein Atelier einrichtete. Die dortigen Aufenthalte nuancierten sein Bewusstsein für Afrika sowie für die afrikanische Diaspora, etablierten verschiedene Netzwerke und intensivierten sein gesellschaftspolitisches Verantwortungsgefühl, das neben der Begeisterung für die kontinuierliche Erweiterung seiner künstlerischen Sprache ein wichtiger Antrieb seines Schaffens ist.
Die Ausstellung in Kassel und ihr Kontext
Mit mehr als 50 Werken markiert die Schau im Fridericianum die erste umfangreiche institutionelle Einzelausstellung von Edwards in Europa. Sie wird in Kooperation mit der Kunsthalle Bern sowie mit dem Palais de Tokyo in Paris realisiert, die das Wirken des Künstlers 2025 und 2026 in jeweils modifizierter Form würdigen werden. Dabei knüpfen die Präsentationen in Deutschland, in der Schweiz und in Frankreich an eine Reihe von Ausstellungen an, die dem Künstler in der jüngeren Vergangenheit gewidmet wurden. So wurde Edwards unter anderen im Dia:Beacon (2022), im deCordova Sculpture Park and Museum in Lincoln (Massachusetts) (2022), durch den Public Art Fund in New York (2021), im Museu Afro Brasil in São Paulo (2020), im Museu Nacional da República in Brasilia (2020), im Museu de Arte Moderna da Bahia in Salvador (2019), im Museu da República in Rio de Janeiro (2019), im Museu de Arte de São Paulo (2018), im Columbus Museum of Art (2016), im Zimmerli Art Museum in New Brunswick (New Jersey) (2015) und im Nasher Sculpture Center in Dallas (2015) breiteren Öffentlichkeiten vorgestellt. Unabhängig von diesen Präsentationen ruft die Ausstellung in der documenta Stadt Kassel Edwards’ Beteiligung an der mit All the World’s Futures betitelten 56. Biennale von Venedig (2015) und der Gruppenpräsentation Postwar: Art Between the Pacific and the Atlantic, 1945–1965 im Haus der Kunst in München (2016) ins Gedächtnis, die von Okwui Enwezor kuratiert wurden.
Die Ausstellung wurde von der Stiftung Stark für Gegenwartskunst, der Hessischen Kulturstiftung sowie der Rudolf Augstein Stiftung gefördert.